Rezension: The Coddling of the American Mind
In ihrem 2018 erschienenen The Coddling of the American Mind zeichnen Jonathan Haidt und Greg Lukianoff die sich seit Jahrzehnten anhäufenden unbeabsichtigten Folgen auf, die bestürzende soziale und kulturelle Trends verursacht haben. Um diese Trends zu erklären, entwickeln die Autoren sechs erläuternde Fäden, von denen jeder mit einer für den Leser angenehmen Mischung aus Statistiken und Anekdoten präsentiert wird.
Erläuternde Fäden:
- Die zunehmende politische Polarisierung
- Die Zunahme von Ängsten und Depressionen bei Jugendlichen
- Veränderungen in der Erziehungspraxis
- Der Rückgang des freien Spielens
- Das Wachstum der Universitätsbürokratie
- Die zunehmende Leidenschaft für Gerechtigkeit als Reaktion auf wichtige nationale Ereignisse, kombiniert mit veränderten Vorstellungen darüber, was Gerechtigkeit erfordert
Aus meiner Perspektive ist die Zunahme überfürsorglicher Erziehung der zentrale Erklärungsansatz des Buches. Haidt und Lukianoff erklären, dass Kinder, wie viele andere Systeme, z. B. unser Immunsystem, antifragil sind und Herausforderungen sowie Stressfaktoren (innerhalb vernünftiger Grenzen) ausgesetzt sein müssen, um sich zu einem reifen, starken und fähigen Erwachsenen zu entwickeln, und dass der Wunsch von Eltern, ihre Kinder vor jeglichem Risiko schützen zu wollen, oft mehr schadet als nützt. Dies hat weit reichende Auswirkungen und spielt in jedem der anderen Erklärungsstränge eine Rolle. Überfürsorgliche Eltern lassen Kinder beispielsweise seltener frei spielen, was für die Entwicklung der von Tocqueville in seiner Demokratie in Amerika erwähnten Kunst des Zusammenlebens unabdingbar ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kinder, die dieser Möglichkeit beraubt wurden, zu Erwachsenen werden, die zur politischen Polarisierung beitragen, anstatt sie zu minimieren, oder die häufiger ängstlich oder deprimiert im Angesicht der Herausforderungen des Lebens sind. Klar, es ist schwierig die Schwelle zwischen notwendigem und überflüssigem Schutz zu erkennen, aber Haidt und Lukianoff legen ein starkes Argument dafür vor, dass wir (als Gesellschaft) zu weit gegangen sind.
Um dieses Dilemma zu lösen, bieten Haidt und Lukianoff einen nützlichen Ansatz. Sie fassen ihre Erklärungsansätze in drei großen “Unwahrheiten” zusammen und stellen diese drei großen Wahrheiten aus den Epigraphen des Buches gegenüber. Das Erinnern an diese großen Wahrheiten und die Tücken der Unwahrheiten wird uns helfen, bessere Menschen und Bürger zu werden.
Drei große Unwahrheiten:
- Was mich nicht umbringt macht mich stärker.
- Vertraue immer deinen Gefühlen.
- Das Leben ist ein Kampf zwischen den Guten und den Bösen.
Drei große Wahrheiten:
- Bereite das Kind auf den Weg vor, nicht den Weg auf das Kind. - Volksweisheit, Quelle unbekannt
- Viel Schlimm’res, als ein Feind dem Feind je angetan, Tut dem das Denken an, der’s nicht beherrschen kann. - Buddha, Dhammapada
- Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. - Aleksandr Solschenizyn, Der Archipel Gulag